Homepage > Literature > Analyses > Die Eine Klage - Karoline von Günderode

Eine Ode an die Menschlichkeit - Gedichtsanalyse "Die Eine Klage" von Karoline von Günderrode

Das Gedicht „Die eine Klage“ von Karoline von Günderrode aus dem Jahre 1805 thematisiert in einem Appell an die Romantiker die Menschlichkeit ihrer Epoche. Das Gedicht entstammt der ebendieser Zeit.

Das Gedicht kann dahingehend gedeutet werden, dass verallgemeinerter Schmerz als Ausgangssituation für ein liebendes Dasein gilt.

Die erste Strophe dient als Deskriptor einer Ausgangssituation. Hier empfindet eine Person einen durch Trennung induzierten Schmerz. In dieser Strophe kommt der Ratschlag auf, diesen Schmerz zuzulassen. In der zweiten Strophe wird daran angefügt, dass der Schmerzspürende die Sehnsucht nach verlorener Liebe empfindet. Außerdem versteht der Angesprochene die Nähe zwischen seinem Schmerz und seiner Freude. In diesem Falle ist das spezifisch die Einsamkeit und Zweisamkeit. In der dritten Strophe heißt es, der Schmerzspürende wird mit der Hoffnung auf neue Liebe nicht getröstet. In der vierten Strophe wird betont, dass diese Abwechslung im Leben, dieser Kontrast in der Liebe, das ist, was das Dasein und unsere Menschlichkeit ausmacht.

Förmlich besteht das Gedicht aus vier epochentypischen Volksliedstrophen à sechs Versen. Die sechs Verse befinden sich in der Schweifreimform (vgl. Str. 1-4), welche die sinnierende und leidende Ausstrahlung des Gedichts verstärkt. Jeweils Vers eins-zwei sowie vier-fünf sind dabei Knittelverse im Trochäus auf einer klingenden Kadenz, während sich Vers drei und sechs als dreihebige Trochäen mit stumpfer Kadenz präsentieren. Diese Formerscheinung lässt das Gedicht rhythmisch wirken und betont jeweils den dritten sowie sechsten Vers der Strophe.

Das Gedicht spricht sich grundsätzlich als unpersönlich (ohne direktem lyrischen Ich), was sich in der ersten Strophe zeigt und konsequent beibehalten wird. Trotzdem besitzt das Gedicht direkte Ansprachen an eine dritte Person, welche mit „Wer“ (V. 1) oder „der“ (V. 7) angesprochen wird. Dieses stilistische Entscheidung erlaubt es dem Leser eine persönliche Nähe durch indirekte Anrede zum Gedicht zu gewinnen und gleichzeitig die Geschehnisse aus einer entfernteren dritten Perspektive zu betrachten. Dieser Dualismus betont eines der vorherrschenden Themen des Gedichtes: Die Beziehung zwischen Nähe und Ferne – oder der Liebe und dem Schmerz.

Die Abhängigkeit der Liebe vom Schmerz wird in der ersten Strophe betont im Parallelismus des Verses vier („was er“) sowie dessen Chiasmus mit Vers fünf („geliebt […] verloren […] muss […] erkoren“). Dazu kommt der betonte dreihebige Trochäus aus Vers sechs mit stumpfer Kadenz, welcher nicht nur das Symbol der Romantik hervorhebt, sondern auch eine spitze Ironie im Wort „geliebt“ mitklingen lässt (vgl. V. 6)

Zu dem kommt die Verwendung der Stigmawörter wie „Wunden“ (V. 1), „bittrer Trennung Schmerz“ (V. 2) und „verloren“ (V. 4). Wobei „bittrer Trennung Schmerz“ in der Betonung des dreihebigen Trochäus ebenfalls als dreistufiges Klimax gelesen werden kann.

Dies alles setzt bereits in der ersten Strophe die Voraussetzung für das Erkunden einer komplexen Beziehung zwischen zwei Gemütszuständen. Dieses ganzheitliche Motiv (vgl. V. 7, 16f., 20) ist ein zentrales in der Romantik. Diese Erkenntnis führt zu einer Interpretation, in der die unpersönliche Anrede des „Wer“ (V. 1) als allgemeine Ansprache an die Romantiker gesehen wird.

Gut sichtbar ist diese These an Vers sieben, welcher von einer Verbindung zwischen Lust und Tränen („Der versteht in Lust die Tränen“ V. 7) spricht. Unter Berücksichtigung der allgemeinen Anrede an die Romantiker mit „der“ (V. 7), kann hier davon ausgegangen werden, dass mit der Lust eine gewisse Freude gemeint ist, die an den Tränen, also dem Schmerz, empfunden wird. Diese leicht sadistische Auffassung ermöglicht einen genaueren Blick in Philosophie der Romantik. Ziel ist es nicht einen Herzschmerz wegzubuchstabieren, sondern sich ordentlich damit zu besudeln. Dieses Motto ist faktisch irrational, jedoch auf einer menschlichen Ebene nachvollziehbar. Das Motiv wiederholt sich später.

Weitere Beispiele des Motivs werden in Strophe zwei als Antithesen präsentiert. Die Liebe und die Sehnsucht (vgl. V. 8), die bedingte Zweisamkeit (vgl. V. 11) und der Schmerz des Lebens (vgl. V. 12) gelten als Beispiele des Lebensschmerzdualismus. Sie werden ausdrucksstark verbunden mit Wörtern wie „ewig“ (V. 8), „schwinden“ (V. 11) oder „Daseins Pein“ (V. 12). Dazu kommt die Anapher des Wortes „Eins“ (V. 9-10) und das dreistufige Klimax auf Vers neun bis elf, welche das Motiv verstärken. Strophe zwei schließt mit der genauen Erläuterung des Motivs die Beschreibung des Ausgangszustands ab. Dem Leser ist nun klar: Etwas Geliebtes wurde verloren – ein trauriges Geschehen!

In Strophe drei folgt schlussendlich ein weiteres, spezielleres Motiv der Romantik: Die Nostalgie. Während in Strophe eins und zwei von einer momentan geschehenen oder gerade passierten schmerzlichen Trennung (vgl. V. 3 und 8) die Rede war, fällt nun der Fokus auf das Überwinden dieses Schmerzes (vgl. V. 16f.) und somit auch auf gute Erinnerungen an die Liebe (vgl. V. 18). Hier wird erneut vom dreihebigen Trochäus mit stumpfer Kadenz Gebrauch gemacht: Eine Exklamation in Vers fünfzehn („Oh!“) und eine Anapher („Neue […] neu“ vgl. V. 17) gekoppelt an eine Antithese („verloren […] geboren“ vgl. V. 16f.) betonen hier die fehlende Zufriedenheit im Neuen und die verlorenen Chancen.

Letztendlich kommt es in Strophe vier zu einer großen Zusammenfassung der erlebten Gefühle aus Strophe eins bis drei. Dies geschieht in Aufzählungen mit Antithesen (vgl. V. 19-23), die sich durch ihre Wiederholung steigern.

Vers 19 spricht vom „geliebte[n] süße[n] Leben“ damit die allgemeine widersprüchliche aber dennoch gemochte Gefühlslage aus Strophe eins bis drei. Im Gegensatz zum „geliebten Herz“ aus Vers 6 schwingt hier durch drei Fahnenwörter keine bis kaum Ironie mehr mit.

Die Antithese vom „Nehmen und […] Geben“ (V. 20) kann als generelle Gegenüberstellung der Motive der Romantik gewertet werden und ist somit ein weiteres Beispiel für den Herzschmerzdualismus.

„Sinn und Blick“ (V. 21) beziehen sich jeweils auf Herz und Hirn, Fakt und Emotion, welche als Widerspruch im Wort – also der Lyrik – zum Ausdruck kommen. Diese Antithese ist ein weiterer Beleg für die generelle Ansprache an die Romantiker, die auf ihre gegensätzlichen Motive pochen.

„Dieses Suchen und […] Finden“ (V. 22) kann als Metapher für die Liebe und die Sehnsucht gewertet werden, wobei das Finden, also die Liebe, deutlich betont als das leicht positiver konnotiertes Wort im Ziel steht. Dieser Vers sagt so viel wie „Die Liebe ist der Schmerz wert!“

„Dieses Denken und Empfinden“, also das Grübeln und die Philosophie der Romantik „gibt kein Gott zurück“ (V. 23f.) – ist also menschengemacht. Das ist das finale Statement. Unsere Liebe ist einzig und allein unsere. Unsere Rituale, unsere Schmerzen verbinden uns, die kann keine Gottheit uns gegeben haben oder austauschen. Sie ist so einzigartig wie unser aller Dasein. Diese Aussage fasst das zuvor ausgiebig erläuterte Motiv der Liebe-Schmerz-Abhängigkeit zusammen als etwas Wundervolles und Schützenswertes. So gesehen ist „Die eine Klage“ von Karoline von Günderrode eine Ode an die Menschlichkeit und ein Appell an die Romantiker nicht mit ihrer Kunst aufzuhören, schließlich verbindet sie durch ihre einheitlichen Motive.

Abschließend kann gesagt werden, dass durch das wiederholte Aufgreifen des Themas der Liebe und des Leidens, durch besondere Ausführlichkeit der kontrastierenden sprachlichen Mittel und durch die historisch typische Volksliedform das Gedicht der Romantik zugeordnet werden kann. Die Deutungshypothese hat sich dahingehend vertieft, dass nicht nur verallgemeinerter Schmerz als Ausgang für ein liebendes Dasein gilt, sondern auch, dass ein künstlerspezifischer Schmerz eine ganze Epoche ausmacht.