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Der Besuch der Alten Dame - Dramenszenenanalyse - 2. Akt 2. Szene "Ill beim Pfarrer"

In dem Dramenszenenausschnitt „Ill beim Pfarrer“ aus dem 2. Akt des Dramas „Der Besuch der Alten Dame“ geschrieben von Friedrich DĂŒrrenmatt im Jahre 1956 sucht Ill vergeblich Hilfe beim Pfarrer. Ich beziehe mich in meiner Analyse auf die Neuauflage aus dem Jahre 1980, erschienen im Diogenes Verlag mit der ISBN 978-3-247-23045-1.

Die Szene ereignet sich nur kurz vor Ills misslungener Flucht. Ebenfalls ist die Pantherjagt noch in vollem Gange.

Die Szene beginnt, indem Ill den Pfarrer in der Sakristei aufsucht, um mit ihm ĂŒber das ausgesetzte Kopfgeld zu reden. Noch bevor sie wirklich reden, beschwichtigt der Pfarrer Ill, dass das anwesende Gewehr nur fĂŒr den Panther vorgesehen ist. ZunĂ€chst schildert Ill seine Angst, doch der Pfarrer tut ihn ab. Ill versucht erneut dem Pfarrer zu erklĂ€ren, wie ernst es ist und wie sehr er sich fĂŒrchtet, allerdings zieht der Pfarrer seine Gegenargumente immer in ein religiöses Bild. Nach einer ausfĂŒhrlichen Diskussion, in der Ill nicht an den Pfarrer herangekommen ist und der Pfarrer Ill nicht anhören will, endet die Szene im Höhepunkt, als Ill herausfindet, dass der Pfarrer ebenfalls auf Ills Tod hofft. Der Pfarrer fleht Ill an zu fliehen, zwei SchĂŒsse fallen, Ill verlĂ€sst daraufhin die Sakristei.

Das GesprĂ€ch startet zivil. ZunĂ€chst sind beide ihrer SĂ€tze noch kurz und sehr roh (vgl. Z. 18-24). Ill rĂŒckt mit der Sprache nicht heraus, möglicherweise aus NervositĂ€t, wĂ€hrend der Pfarrer sich dahingegen unwissend stellt. Eine Farce, wie sich spĂ€ter in Zeile 73-86 herausstellt. Der Pfarrer muss sich jede Antwort Ills erkĂ€mpfen, bevor ein Wechsel der Satzstrukturen erfolgt.

Ill benutzt einen Vergleich, der auf den Panther abspielt („Sie jagen mich wie ein wildes Tier.“ Z. 25), woraufhin der Pfarrer anfĂ€ngt, davon zu predigen, was man wirklich im Leben fĂŒrchten sollte. Diese Unterbrechung der Satzstrukturen wird mit einem kirchlichen Anklang unterstĂŒtzt, und zwar durch die Aufforderung an den Sigrist (vgl. Z. 28), was die ganze Situation in ein religiöses Licht stellt. Es ist ebenfalls das erste Mal, das der Pfarrer vom ewigen Leben und der Unsterblichkeit spricht (vgl. Z. 27f.). Dieses Gerede vom ewigen Leben und der Unsterblichkeit deutet darauf hin, dass der Pfarrer Ill schon fĂŒr Tod erklĂ€rt und weiß, dass Ill bald schon nur noch als Erinnerung existieren wird. Möglicherweise möchte er ihm eine Vorwarnung geben.

Ill bringt das GesprĂ€ch wieder auf den richtigen Weg, fĂ€ngt wieder an mit kĂŒrzeren SĂ€tzen (vgl. Z. 34), doch der Pfarrer versucht (erfolglos) erneut das „ewige Leben“ (Z. 35) einzubeziehen. Dieser kurze Wortwechsel klingt wie der Anfang: Nervös, zaghaft, unsicher. Ill bringt weitere Argumente, sichtlich darauf aus, dem Pfarrer weiszumachen, dass er bald sterben wird. Ill tut dies ohne der Ahnung, dass der Pfarrer von seinem Tod bereits ĂŒberzeugt ist. Ills BemĂŒhungen bleiben somit unangerĂŒhrt.

Schließlich ist Ill frustriert, nennt seine Situation beim Namen: „Ermordung“ (Z. 40). Er benutzt weitere rhetorische Figuren um seine GefĂŒhle deutlich zu machen: „Ich krepiere vor Entsetzten“ (Z.41) oder „Es ist die Hölle“ (Z.44). Ill ist verzweifelt, weiß nicht, wie er es noch deutlicher machen kann. Bei seinen Versuchen ist „Hölle“ jedoch das falsche Stichwort, denn der Pfarrer stĂŒrzt sich auf diese Gelegenheit Ill zu erklĂ€ren, dass er sich diese „Hölle“ nur einbildet. Der Pfarrer gibt Ill den Ratschlag „nur sich zu kennen“ (Z. 46), weshalb Ill nicht wissen kann, ob andere ihn töten möchten. Dieser Rat erschĂŒttert Ills Überzeugung, dass alle Dorfbewohner ihn fĂŒr das Kopfgeld töten möchten, jedoch nicht. Fast krampfhaft argumentiert Ill weiter, indem er Beispiele – Familien – nennt, die sich etwas in letzter Zeit geleistet haben, darauf wartend das Geld durch den Tod Ills zurĂŒckzuzahlen. Fast genauso akribisch hĂ€ngt der Pfarrer an dem Glauben, es sei nichts. Dies geschieht wieder in einem kurzen, schlagfertigen Wortwechsel. Der Pfarrer erwĂ€hnt erneut die Unsterblichkeit (vgl. Z. 56f.) und rĂ€t ihm an zu beten (vgl. Z. 57). Es ist ein mickriger Versuch Ill zu erklĂ€ren, dass er verloren ist. Es ist ebenso enttĂ€uschend fĂŒr den Pfarrer, Ill dies zu erklĂ€ren, wenn der Pfarrer selbst weiß, dass Ill bald sterben wird.

Es folgt ein grĂ¶ĂŸerer Sprechteil der, mal wieder, von dem Pfarrer ausgefĂŒhrt wird. Erneut klingt es wie ein Teil einer Predigt. Gerade als der Pfarrer gehen möchte, wird er verraten durch seine zweite, neue, teure Glocke, die er sich von demselben Geld geleistet hat, von dem alle hoffen, dass es nach Ills Tod kommen wird. Er versucht es zunĂ€chst gelassen abzutun, doch Ill erfĂ€hrt einen Emotionsausbruch, was zu dem geladenen GestĂ€ndnis des Pfarrers fĂŒhrt: Die physische NĂ€he, die Aufforderung zu fliehen, die Deklaration der Gemeinsamkeiten von „Christen und Heiden“ (Z. 78f.), welche historisch getrennt sind, das direkte Zitat „fĂŒhre uns nicht in Versuchung“ (Z.80f.) aus dem Vaterunser, nur der Situation angepasst: All das zeigt Verzweiflung, unter welchen GefĂŒhlen der Pfarrer als GlĂ€ubiger wohl steht, wenn er von vornherein schon wusste, dass er dieses Angebot nicht abschlagen wird.

Besonders ist der Trugschluss am Ende in dem zwei SchĂŒsse fallen und Ill gleichzeitig zu Boden sinkt, wĂ€hrend der Pfarrer neben ihm kauert wie ein geschlagener Mann, der gerade die SĂŒnde seines Lebens begannen hat, mag den Leser denken lassen, dass der Pfarrer Ill erschießt, doch dem ist nicht so. Die allerletzte Aktion fĂŒhrt Ill aus, wie er das Gewehr in die Hand nimmt, was vielleicht daraufhin deutet, dass er sich selbst zur Waffe machen möchte, oder, dass er sich gerne erschießen will, jetzt, nachdem selbst sein letztes FĂŒnkchen Hoffnung erloschen ist.

In diesem GesprĂ€ch lernt der Zuschauer vieles ĂŒber die Sprechweise beider Charaktere, wenn sie unter starken Emotionen stehen: Ill fĂ€ngt an zu stammeln; der Pfarrer fĂ€ngt an nonchalant zu schwafeln (vgl. Z. 18-28).

Das GesprĂ€ch wirkt auf den Zuhörer sonderbar, es hat keinen groß gegliederten Mittelteil und gewisse Stellen scheinen bekannt, da sich Sprechweisen wiederholen. Der Anfang ist zu seicht, weil kein vernĂŒnftiges GesprĂ€ch zustande kommt; das Ende ist zu abrupt, weil das unaussprechbare GestĂ€ndnis ausgesprochen wurde.

Der vergebliche Hilfesuch beim Pfarrer ist einer von Ills letzten StĂ¶ĂŸen zur Flucht und könnte erklĂ€ren, warum der Pfarrer in der darauffolgenden Fluchtszene nicht spricht. Möglicherweise wurde seinerseits schon alles gesagt. Ill kommt zu der Erkenntnis, dass ihn insgeheim schon alle fĂŒr tot erklĂ€rt haben und, dass ihm keiner helfen wird. Demnach ist die Szene ein bedeutsamer Teil des 2. Aktes, der von Ills Verzweiflung und der Verschwiegenheit der BĂŒrger geprĂ€gt ist.

Written for: German class, 7/21