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Analyse eines Dramenfragments: "Woyzeck" (Szene Fünf, Die Rasur)

Szene fünf des Dramenfragments „Woyzeck“ (G. Büchner, 1878) behandelt die Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Schichten. Die Analyse des Textes geschieht unter besonderer Berücksichtigung der sozialen und materiellen Situationen der Dialogpartner.

Der Text entstand vor dem historischen Kontext des Vormärzes 1836.
Für das Verständnis der Szene ist Vorwissen über Woyzeck (Soldat, arm, hat ein uneheliches Kind) und über den Hauptmann (seinen Vorgesetzten) von Bedeutung. Für den Verlauf des weiteren Stückes ist die Szene wichtig, um zu verstehen, wie die Gesellschaft mit Woyzeck umgeht.

Franz Woyzeck rasiert den Hauptmann über die ganze Szene hinweg. Währenddessen philosophiert der Hauptmann über Zeit, Moral, Tugend und kritisiert dabei Woyzecks Lebensstil. Er kommt zu dem Schluss, dass Woyzeck dumm, unmoralisch, aber auch zu hektisch ist. Woyzeck widerspricht ihm erst am Ende. Er findet diese Anschuldigungen nicht gerechtfertigt und sagt, dass die Aussagen des Hauptmannes aus einer Position des Privilegs kommen.

Weil sich in der Szene zwei Personen unterschiedlichen Reichtums, Bildungsgrades und somit Privileg über ebendiese Themen unterhalten, sind ihre Unterschiede hinsichtlich ihres Menschen-/ und Weltbilds hier besonders hervorstechend. Weil außerdem hauptsächlich der Hauptmann spricht (vgl. S. 12, Z. 22), bekommen wir größeren Einblick in seine Lebenslage.

Die finanzielle Liquidität des Hauptmanns ist in zunächst daran zu erkennen, dass seine größte Sorge die Ewigkeit ist (vgl. Z. 31f.). Das ist eine Angst für Personen ohne Geldsorgen. Er spricht von Beschäftigung in der Ewigkeit (vgl. Z. 32) und Zeitverschwendung an einem Tag (vgl. S. 13, Z. 4), beides philosophische Gedanken, für die Woyzeck keine Zeit hat. Dies geht so weit, dass er an alltäglichen Gegenständen wie dem Mühlrad anhält, um über die Ewigkeit nachzudenken und dabei ausgesprochene „Melancholie“ (vgl. Z. 5f.) spürt. Ebenfalls kann er über das Wetter plaudern, als hätte er keine größeren Sorgen (vgl. Z. 11). Das kann Woyzeck sich nicht leisten.

Als der Hauptmann den Vergleich zu Woyzeck zieht und seinen Stress erkennt, schließt er direkt darauf, dass Woyzeck kein guter Mensch ist (vgl. Z. 9). Ein harter Schluss, eine Beurteilung eines Vorgesetzten gegen einen Angestellten – aber auch der, einer besser situierten Person, die auf weniger gut situierte Personen herabblickt. Diese Aussage zeigt eine sehr klare Kritik des Textes an herrschaftlichen Schichtengesellschaftsformen, was in den historischen Kontext des Vormärzes passt, in dem zunächst soziale Gerechtigkeit und das Elend der kleinen Leute im Vordergrund standen. Die gründliche Diskrepanz zwischen Woyzeck und dem Hauptmann (gesellschaftlich/militärisch/finanziell) wird unterstützt von der sprachlichen Gestaltung: Der Hauptmann spricht viel und in langen Sätzen (vgl. Z. 17-24), auf philosophischem Grund und durch ausgedehnte Gedanken (vgl. S. 12, Z. 31 bis S. 13, Z. 6). Woyzeck dahingegen antwortet in knappen und kurzen Sätzen, bestärkend wie im Militär („Ja wohl, Herr Hauptmann“ Z. 7). Daraus lässt sich schließen, dass Woyzeck die Arbeit mit nach Hause nimmt. Er beschäftigt sich länger mit dem Hauptmann als zwingend nötig und kann selbst militärische Angewohnheiten einem Vorgesetzten gegenüber in seiner Freizeit nicht ablegen. Er wird in seinem privaten Leben bevormundet. Dies bestärkt Woyzecks Zwang (nach gesellschaftlicher Anerkennung), seine Not (Geld für das Kind) und den Fakt, dass er keine Freizeit hat (Freiheit von der Arbeit, bestehen auf Arbeiter- und Bürgerrechte). Büchner kritisiert somit das ausbeutende Arbeiten und die Abhängigkeit vom Arbeitgeber. Diese Kritik fügt sich ebenfalls in dem Vormärz ein (als politische Revolution zu Menschenrechtsbewegung und Systemkritik führte) und bildet gleichzeitig die Verbindung zur Aufklärung. Die Befreiung vom Arbeitgeber ist trotz gesellschaftlicher Revolution nur bedingt ausgeführt worden, wobei ein Vormund bestehen bleibt. Die systematische Nähe ist zudem ausgedrückt in der körperlichen Nähe des Rasierens, welches ihre finanziellen Möglichkeiten weiterhin verdeutlicht.

Diese Alltägliche Aufgabe, die Woyzeck für dich selbst täglich übernehmen muss ist ein Luxus, sie sich abzukaufen. Im Umkehrschluss ist es auch eine erniedrigende Tätigkeit seinen Vorgesetzten zu rasieren, was die Dringlichkeit der Armut verstärkt. Zudem betont das Sitzen des Hauptmanns (S. 12, Z. 20) diese Erniedrigung – vergleichbar mit einem König lässt er sein Fußvolk (Woyzeck) für ihn arbeiten.

Später argumentiert Woyzeck, scheinbar aus Erfahrung („wir“ S. 13, Z. 32), dass die arme Bevölkerung sich höher priorisieren muss als seine Moral. Das bedeutet, dass Erniedrigungen so wie sein Nebenverdienst hingenommen werden müssen. Lässt man Woyzeck über seine Motivationen sprechen, so nennt er sein „Fleisch und Blut“ (S. 15, Z. 2) – sein Kind ist also ein treibender Motivator, sich durch die Eskapaden des Rasierens zu zwängen. Dies ist wichtig zu nennen, da ein Kind nichts Materielles ist und trotzdem stellt Woyzeck es über die Motivation sich selbst zu ernähren. Für Hauptmann allerdings ist die Landschaft das Schönste, verwendet nur da das Wort „Liebe“ (vgl. Z. 9) – ebenfalls ein Zeichen der finanziellen Möglichkeiten. Wer nichts hat, hat wenigstens sein Kind; wer viel hat, kann sich es Leisten über Bilderbuchlandschaften nachzudenken.

Währenddessen kann das der Hauptmann nicht nachvollziehen (vgl. S. 14, Z. 5f.). Er kritisiert Woyzeck für seine fehlende Moral (S. 13, Z. 20), für seine fehlende Tugend (vgl. S. 14, Z. 20), die dem Hauptmann allein möglich gemacht werden konnte durch seine hohe gesellschaftliche Stellung und seine finanzielle und zeitliche Möglichkeit, um das Privileg der Kritik auszunutzen. Selbst Woyzeck greift das auf: „Sehen Sie wir gemeinen Leut, das hat keine Tugend, aber wenn ich ein Herr wär […]“ Z. 14-17). Des Weiteren ist die Beschuldigung der Einfältigkeit und der Morallosigkeit (vgl. S. 13, Z.18ff.) eine herabschauende und herabwürdigende Aussage, die sich auf bereits genannte Privilegienunterschiede beruft.

Als Woyzeck sich dagegen verteidigt, verteidigt er gleich die Gesamtheit an Bedürftigen mit (vgl. S. 13, Z. 25); Er spricht von Nächstenliebe. Beides Themen, mit denen sich Woyzeck als armer Mann identifizieren kann. Für den Hauptmann dahingegen ist das Aufnehmen Bedürftiger nicht selbstverständlich („kurios“, „confus“ Z. 29f.), was eine ignorante Position ist, die zu seinem Reichtum passt. Deutschland 1836 ist ein Land mit Klassenunterschieden ohne Versicherungen. Es ist ein junges Land, nicht einmal ganz vereinigt. Wer arm und bedürftig ist, der ist auf sich allein oder die Hilfsbereitschaft anderer angewiesen. Da der Vormärz geprägt von sozialen Problemen war, fügt sich die Szene auch hier den „aktuellen“ gesellschaftlichen Problemen 1836. Denn der Hauptmann geht außerdem davon aus, dass Woyzeck weitere dreißig Jahre lebt (vgl. S. 12, Z. 26). Dies ist eine Annahme einer Person, die es sich leisten kann, einen Arzt aufzusuchen, ein vernünftiges Dach über dem Kopf hat und keine Geldsorgen hat. Dies geht so weit, dass er seine Ansicht – geprägt aus dem (relativen) Reichtum Woyzeck auf die Nase bindet (Z. 28f.)

Zusammenfassen kann gesagt werden, dass Szene fünf des Dramenfragments „Woyzeck“ damals und heute aktuelle gesellschaftliche Themen mit dem historischen Bezug zum Vormärz aufgreift und Klassenunterschiede durch Anfeindungen, zeitliche, finanzielle und gesellschaftliche Möglichkeiten verdeutlicht in Form des Streitgespräches zwischen dem Hauptmann und Woyzeck.

Persönlich gefiel mir die Szene gut und ihre Analyse bereitete mir Spaß.