Den Schafen an die Wolle
Einem Biologen auf der Weide
In einer Herde voller Versuchsobjekten und ein Biologe mitten zwischen ihnen. Vollbepackt. Messgeräte links und rechts, da kommt ein Kind durch den tiefen Schnee gestapft.Ringelmütze, Lederschuhe. Trennt es die Schafe links und rechts. Es stand bereits am Straßenrand, als der Schäfer dem Biologen die Weide aufschloss und ihn auf den Weg gesandt. Es lugt ihm in die Augen, groß und braun. Es sagt:
Der Biologe sagt:
Ja?
Es überlegt eine ganze Weile und sagt dann schließlich:
Und der Biologe seufzt und sagt geschlagen:
Und das Kind streckt die kleinen gefrorenen Finger nach der des Biologen, tiefgefasst in der flockendicken Wolle dieses Widders.
Für einen Moment ist es still. Es hat angefangen zu schneien. Ganz leise und unbemerkt. Und während die im Schal steckende Nase geräuschvoll hochgezogen wird, wird die Weide immer weißer. Große Brocken dicken Schnees verfangen sich in der krausen Wolle.
Ja.
Greif hinein.
Ganz hinein?
Ja, ganz hinein. Fühlst du das Fell? Wie dick es ist?
Ja.
Es wird geschoren, zwei Mal. Einmal ganz im Frühjahr und einmal halb im Herbst. Es wächst schnell. Das Schaf spürt deine Hand kaum.
Es lacht und zieht seine Hand schnell weg wie von einem heißen Herd, versteckt sie in den Innenseiten seiner Ärmel.
Was? Hast du Angst? Keine Sorge, das Schaf wird dich schon nicht fressen.
Das Schaf blökt und das Kind erschrickt.
Vielleicht,
sagt das Kind.
Einem Schäfer bei der Arbeit
berichtet der Biologe, gemeinsam mit dem Schäfer unter dem geschützten Arbeitsstand ein Schaf zwischen ihnen ausgebreitet, bereit untersucht zu werden. Es blökt.
Sagt der Schäfer.
Fragt er hinterher.
Ja?
Ja.
Also sagt der Schäfer:
Überwache.
Nein, ich überwache nicht. Ich verantworte. Ich regele. Aber der Kopf überwacht keinen Körper. Stattdessen, er analysiert ihn durch seine Beobachtungen. Ja, ich beobachte. Ich wache. Ich bin ein integraler Teil der Herde.
Und der Schäfer sagt:
Und du weißt, wo ihr Fleisch am besten geht,
sagt der Biologe und Stille kehrt in das kleine Schäferhäuschen ein. Das schneenasse Papier wird nicht mehr vom kratzenden Bleistift penetriert und selbst das Instrument in der Hand des Schäfers gefriert.
Sagt der Biologe und widmet sich erneut dem Schaf zwischen ihren Beinen.
Ich liebe meine Tiere bis in den Tod und weit dahinüber hinaus. Wie könnte ich auch nicht. Es lässt mich nicht den Tod lieben und es macht mich nicht ungerecht.
Nein.
Nein. Es ist meine Aufgabe. Meine Arbeit.
Ja. Es ist deine Aufgabe. Du wirst bezahlt. Nicht das Schaf.
Da richtet der Schäfer sich auf und sagt:
Nein.
Nein.
Gut.
Ja. Gut.
Komm, gib mir das nächste. Wir wollen mit ihnen fertig sein, bevor der Mond am Himmel steht.
Einem Metzger hinter der Theke
Wenn im Schlachthaus die Gänsebraten in Nelken und Orangen schwimmen, dann liegt ein Zimtgeruch nicht fern. Es ist doch recht frisch, mit dem weiß gefliesten Boden vor der Metzgertheke. Auf der Waage ist alles Fleisch pink. Jedes Fell geschoren, jeder Knochen ausgeboren.Nicht jeder. Gut, nicht jeder.
Wenn das kleine Kind über die Theke linst, stellt es sich auf die Zehenspitzen und krallt es sich in die Glasabdeckung, wie ihm der Mund offensteht, als es seinen Blick über Wurst und Fleisch, Salat und Sülze legt.
Sagt der Metzger.
Dann überlegt es, lang und intensiv und sagt:
Und in die Stille, die folgte, passte gerade so das Blöken eines Lammes.
Und dann lachte der Metzger.
Was ist das, das Lamm?
Also holt der Metzger tief Luft und sagt:
Es liegt im Gras des Frühjahrs zwischen Butterblumen und Klee, weiße Wolken spiegeln sich nicht nur im Bergsee, sondern über die ganze Wiese. Sie verlaufen sich manchmal und schreien nach ihren Müttern. Manche Wanderschäfer laufen dutzende Kilometer am Tag, nur um dem Schaf die beste Weidemöglichkeit zu bieten. Dann laufen sie so viel, dass es anders schmeckt, als würden sie den Tag nur stehen.
Ja?
Ja, es wäre nicht so zart und saftig. Weniger intensiv. Danke dem nächsten Hirten, der sein Vieh treibt. Dann schmeckt es anders, wenn man es mit Getreide anstatt mit Gras füttert. Aber es kommt auch darauf an, was man daraus macht. Ein geborenes Lamm macht dich noch lange nicht zu Jesus.
Du siehst hier: Lammhaxen, Lammrücken, Lammnacken, Lammfilets. Wir schneiden es hinten. Dann kommen sie vom Eingang dort zur Schlachtbank und ein trauriger Anblick ist es, wie ich sie henke. Denn ich bin der heilige Henker. Frei von Verantwortung, frei der Tötungsschuld bin ich der Grund, warum. Ohne mich gäbe es das alles nicht: Das Schaf, wie es Grenzen übertritt. Ohne mich wäre sein Tod bedeutungslos. Es ist traurig. Aber Strafe bleibt Strafe und Gesetz bleibt Gesetz.
Was ist es dann, das Verbrechen des Schafes?
Es steht zur falschen Zeit im Falschen Buch. Die falsche Zivilisation. Das große Unglück des Schafes, einer Metapher zu dienen. Irgendwann weißt du, wie es endet. Irgendwann schaust du in ihre Augen und sie fixieren deine mit schwarzen waagerechten Balken und sie sagen: Mein guter Freund, weine nicht. Morgen komme ich wieder. Dies ist kein trauriger Anlass. Dies ist ein Wiedersehen. Und dann durchtrennst du ihre Halsschlagader, betäubt liegen sie da bis die letzte restliche Wolle rot, rot, rot und die Tropfen dir in die Schuhe süppen. Es ist kein leichtes, ein Schaf zu schlachten. Ja, das Rind ist groß und sperrig, aber wenigstens nennt es dich keinen Freund. Wenigstens schlachtest du nicht die Unschuld selbst. Es ist grässlich eine Kunst daraus zu machen. Hier geht alles über die Bänder: Huhn, Schwein, Rind, Schafe, Pferd – alles eben, was man nun schlachten möchte. Aber das Schaf zu töten, das Schaf, das ist grässlich.
Und dann schweigt er. Lange, lange Zeit.
Einem Pastor am Altar
Ein Kirchenschiff in der Adventszeit ist niemals frei von Geistern. Flackern doch alle Kerzen, klingeln doch alle Orgelpfeifen, liegen doch alle Buntglasfenster unter der feinen Borde des Frosts. Selbst die Schleiereulen im Dachstuhl merken dies.Jeder Pastor zittert, wenn er das Kirchenschiff am Dienstagmorgen betritt. Nicht nur, wenn ein Kind am Altar steht.
Fragt der Pastor und bewegt sich von der Sakristei zum Marmorblock. Aber es antwortet nicht.
Ich weiß es nicht.
Nein?
Sagt der Pastor und setzt sich zum Kind.
Nein.
Sagt es und beginnt mit der Kerzenflamme zu spielen.
Und das Kind läuft um den Altar.
Und das Kind sah ihn an, als sei der Pastor von allen guten Geistern verlassen.
Sagt es.
Das kann ich nicht. Dazu bist du zu jung.
Sagt der Pastor.
Kein Glaube dieser Welt gibt dir je konkrete Antwort. Geh nach Hause.
Aber ist er mir das nicht Schuldig? Antwort?
Mein Kind, Schuld, das ist das ganze Lamm. Das Schaf ist die älteste und einfachste Metapher. Seit Jahrtausenden sprechen wir vom Schaf als absoluten Nullpunkt eines Unschuldsbarometers. Schon zu Jesu Zeiten nutze man das Tier als Opfersymbol. Es tropft das tierische Blut hinab ins Feuer, wenn Rauchgeschwaden gen Himmel zieh’n. Ich schenke dir Leben sagt das Brandopfer und legt sich Gottes Willen zu Füßen. Mein Leben ist bestimmt der Opfergabe. Und dann stirbt es.
Warum?
Weil wir es töten.
Wer bestimmt den Tod?
Gott.
Sind wir dann Gottes Henker? Der Metzger sagt, er sei ein Henker.
Der Metzger ist ein geeigneter Boote Gottes. Wenn sein Fleisch deinen Magen hinunterrutscht, sei froh, dass die Unschuld dieses Lammes überwiegt. Sei froh, dass du all sein Fleisch stopfen kannst in deinen Mund. Gesegnet seien deine Zähne, die reißen auf die heiligen Fasern dieses Tieres. Es ist animalisch. Zerfetzt wird das Tier, beschuldigt der Unschuld. Hinrichtung ohne Prozess. Du nagst an seinen Knochen, verkohlt vom Ruß, in der Hoffnung Gottes Wort im feinen Abgeschmack zu entziffern. Das ist das Schaf. Die reinste Form der Kommunikation.
Das Kind schweigt. Es ist still für eine lange Zeit.
Doch!
Sagst das Kind.
Doch! Ich verstehe. Warte! Gehe nicht.
Und es steht ein Kind am Altar, Ringelmütze und Lederschuhe. Es schaut so aus, als würde es schrecklich frieren als es endlich sagt:
Und sowie das Kind gesprochen, kehrt es auf der Stelle um und schlägt die hohe Eichentür unter dem Ölgemälde eines Schafes zu.
Einem Kinde unter der Decke
So finde man das Kinde am Abend vor dem Heiligen, kniend vor Bett und Kissen, die Hände gefaltet, den Blick gerichtet auf ein Fenster zum Himmel. Und es murmelt unverständliche Dinge; und wie es das so macht, passt kein Blatt zwischen ihm und dem kleinen Plüschschaf, dass es zwischen den spitzen Knöcheln geklemmt.
Die Augen fest zugekniffen, nimmt es tief Luft, atmet ein das einfallende Licht des geöffneten Türspalts und der beleuchteten Fenster und der fluoreszierenden Sterne an der Zimmerdecke und sagt:
Dann öffnet es die kleinen Augen und atmet das gelbe Licht des Hauses wieder aus. Dann ist es still. Sehr still. Das Prasseln es Niesels an der Fensterscheibe hatte sich in sanften Schnee gewandelt, als würden selbst die Wolken sagen:
Und sobald das Knarzen der hölzernen Treppe den erhobenen Zeigefinder verlauten lässt, huscht das Kind unter die Decke und mit jedem Atemzug reist mit ihm ein Schaf.