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Definiere mir ein Schaf...

Den Schafen an die Wolle

Einem Biologen auf der Weide

In einer Herde voller Versuchsobjekten und ein Biologe mitten zwischen ihnen. Vollbepackt. Messgeräte links und rechts, da kommt ein Kind durch den tiefen Schnee gestapft.

Ringelmütze, Lederschuhe. Trennt es die Schafe links und rechts. Es stand bereits am Straßenrand, als der Schäfer dem Biologen die Weide aufschloss und ihn auf den Weg gesandt. Es lugt ihm in die Augen, groß und braun. Es sagt:

Definiere mir ein Schaf.

Der Biologe sagt:

Nein, weil ich bald Feierabend machen will.
Aber es streckt die Hand aus nach dem Saum der dicken Winterjacke des Biologen und beharrt.

Definiere mir ein Schaf, bitte.
Und so tut er wie ihm geheißen und erklärt:
Also das Schaf.
Ja?
Und es hängt ihm an den Lippen.
Also das Ovis. Die Gattung der Böcke. Zwei Mal domestiziert seit der Jungsteinzeit – ein wertvolles Haus- und Nutztier. Das Mufflon, das europäische Hausschaf: maximales Körpergewicht: zweihundert Kilogramm; Schulterhöhe liegt da so bei zirka ein Meter dreißig. Wie groß bist du?

Es überlegt eine ganze Weile und sagt dann schließlich:

Ein Meter und achtundvierzig Zentimeter.

Und der Biologe seufzt und sagt geschlagen:

Dann pass eben auf, dass sie dich nicht umrennen. Wo ist deine Hand? Halt sie her.

Und das Kind streckt die kleinen gefrorenen Finger nach der des Biologen, tiefgefasst in der flockendicken Wolle dieses Widders.

Ja, so. Genau so.

Für einen Moment ist es still. Es hat angefangen zu schneien. Ganz leise und unbemerkt. Und während die im Schal steckende Nase geräuschvoll hochgezogen wird, wird die Weide immer weißer. Große Brocken dicken Schnees verfangen sich in der krausen Wolle.

Fühlst du das?
Ja.
Greif hinein.
Ganz hinein?
Ja, ganz hinein. Fühlst du das Fell? Wie dick es ist?
Ja.
Es wird geschoren, zwei Mal. Einmal ganz im Frühjahr und einmal halb im Herbst. Es wächst schnell. Das Schaf spürt deine Hand kaum.
Es lacht und zieht seine Hand schnell weg wie von einem heißen Herd, versteckt sie in den Innenseiten seiner Ärmel.
Was? Hast du Angst? Keine Sorge, das Schaf wird dich schon nicht fressen.

Das Schaf blökt und das Kind erschrickt.

Wiederkäuer, ausschließlich Vegetarier. Mehrere Mägen, faszinierende Tiere. Sie stehen hier zum Schutz der Wiese. Kulturlandschaftspflege. Interessierst du dich für die Viehwirtschaft?
Das Kind schaut wie ein Schaf.
Ob du Schäfer werden willst.
Vielleicht,

sagt das Kind.

Vielleicht aber auch nicht.
Und dann grinst es so schelmisch und macht auf der Stelle kehrt und flieht zurück den Hügel hinauf ins Dorf.

Hey,
ruft der Biologe ein letztes Mal und lässt es dann bleiben. Dann ist der Moment nämlich vorbei und von hinten hört der Biologe:
Kommst du?
Und der Biologe kommt.

Einem Schäfer bei der Arbeit

Es sagte: Definiere mir ein Schaf,

berichtet der Biologe, gemeinsam mit dem Schäfer unter dem geschützten Arbeitsstand ein Schaf zwischen ihnen ausgebreitet, bereit untersucht zu werden. Es blökt.

Pah!

Sagt der Schäfer.

Du?

Fragt er hinterher.

Du verstehst doch... nur das Grobe. Ich, Ich definiere dir ein Schaf.
Ja?
Ja.

Also sagt der Schäfer:

Das Schaf ist ein Tier mit viel Willen, aber ohne Hirn. Nicht ohne Grund folgt die Herde dem Leitschaf. Also bin das ich. Ja, ich. Der Schäfer, das ist das große Hirn des Schafes. Also ich muss sie leiten und treiben und ich bin derjenige, der das große Wohl des Schafes im Auge hat, denn ich sehe alles.
Überwache.
Nein, ich überwache nicht. Ich verantworte. Ich regele. Aber der Kopf überwacht keinen Körper. Stattdessen, er analysiert ihn durch seine Beobachtungen. Ja, ich beobachte. Ich wache. Ich bin ein integraler Teil der Herde.

Und der Schäfer sagt:

Ich muss es leiten. Denn ich weiß, worauf es im Leben eines Schafes anzukommen hat. Ich sehe ihre Augen. Ich sorge mich um sie. Ich weiß, wo das saftigste Gras wächst, wo sie den sonnigsten Platz erspähen, wo das Wasser am reinsten fließt, der Wind die weiße Mähne am gründlichsten vom Staub befreit.
Und du weißt, wo ihr Fleisch am besten geht,

sagt der Biologe und Stille kehrt in das kleine Schäferhäuschen ein. Das schneenasse Papier wird nicht mehr vom kratzenden Bleistift penetriert und selbst das Instrument in der Hand des Schäfers gefriert.

Leugne es nicht, mein Freund.

Sagt der Biologe und widmet sich erneut dem Schaf zwischen ihren Beinen.

Du bist der Hirte. Du schläfst neben der Flinte, bereit jeden Wolf zu schießen und du feilschst mit dem Metzger um das Fleisch.
Ich liebe meine Tiere bis in den Tod und weit dahinüber hinaus. Wie könnte ich auch nicht. Es lässt mich nicht den Tod lieben und es macht mich nicht ungerecht.
Nein.
Nein. Es ist meine Aufgabe. Meine Arbeit.
Ja. Es ist deine Aufgabe. Du wirst bezahlt. Nicht das Schaf.

Da richtet der Schäfer sich auf und sagt:

Sieh mich nicht so an, als seist du unschuldig. Das sind wir alle nicht, nein. Keiner von uns ist unschuldig. Nichts und vor allem nicht dieses Prozesses. Dafür haben wir die Schafe. Du sorgst um dein Produkt; es gut zu verkaufen. So sind wir alle gleich. Auf der Weide zählen wir nicht in Primzahlen.
Nein.
Nein.
Gut.
Ja. Gut.
Komm, gib mir das nächste. Wir wollen mit ihnen fertig sein, bevor der Mond am Himmel steht.

Einem Metzger hinter der Theke

Wenn im Schlachthaus die Gänsebraten in Nelken und Orangen schwimmen, dann liegt ein Zimtgeruch nicht fern. Es ist doch recht frisch, mit dem weiß gefliesten Boden vor der Metzgertheke. Auf der Waage ist alles Fleisch pink. Jedes Fell geschoren, jeder Knochen ausgeboren.
Nicht jeder. Gut, nicht jeder.

Wenn das kleine Kind über die Theke linst, stellt es sich auf die Zehenspitzen und krallt es sich in die Glasabdeckung, wie ihm der Mund offensteht, als es seinen Blick über Wurst und Fleisch, Salat und Sülze legt.

So, mein Kind.

Sagt der Metzger.

Was brauchst du?

Dann überlegt es, lang und intensiv und sagt:

Definiere mir ein Schaf!

Und in die Stille, die folgte, passte gerade so das Blöken eines Lammes.
Und dann lachte der Metzger.

Ach ja? Das Schaf. Das Schaf. Was willst du wissen, mein Lamm?
Was ist das, das Lamm?

Also holt der Metzger tief Luft und sagt:

Das Lamm ist das kleine Schaf. Das Kind. Es wird geboren im Frühjahr, wenn das weiße Fell die schneefreien Plätze in der Wiese füllt. Bei der Geburt wiegen sie zirka vier bis sechs Kilogramm. Nach vier, fünf Monaten wiegen sie vierzig, fast fünfzig Kilogramm. Dann werden die Tiere geschlachtet. Es ist sehr zart und saftig. Und es schmeckt sehr intensiv. Je jünger die Tiere, desto zarter das Fleisch, aber das lohnt sich kaum bei der Masse.

Es liegt im Gras des Frühjahrs zwischen Butterblumen und Klee, weiße Wolken spiegeln sich nicht nur im Bergsee, sondern über die ganze Wiese. Sie verlaufen sich manchmal und schreien nach ihren Müttern. Manche Wanderschäfer laufen dutzende Kilometer am Tag, nur um dem Schaf die beste Weidemöglichkeit zu bieten. Dann laufen sie so viel, dass es anders schmeckt, als würden sie den Tag nur stehen.
Ja?
Ja, es wäre nicht so zart und saftig. Weniger intensiv. Danke dem nächsten Hirten, der sein Vieh treibt. Dann schmeckt es anders, wenn man es mit Getreide anstatt mit Gras füttert. Aber es kommt auch darauf an, was man daraus macht. Ein geborenes Lamm macht dich noch lange nicht zu Jesus.

Du siehst hier: Lammhaxen, Lammrücken, Lammnacken, Lammfilets. Wir schneiden es hinten. Dann kommen sie vom Eingang dort zur Schlachtbank und ein trauriger Anblick ist es, wie ich sie henke. Denn ich bin der heilige Henker. Frei von Verantwortung, frei der Tötungsschuld bin ich der Grund, warum. Ohne mich gäbe es das alles nicht: Das Schaf, wie es Grenzen übertritt. Ohne mich wäre sein Tod bedeutungslos. Es ist traurig. Aber Strafe bleibt Strafe und Gesetz bleibt Gesetz.
Was ist es dann, das Verbrechen des Schafes?
Es steht zur falschen Zeit im Falschen Buch. Die falsche Zivilisation. Das große Unglück des Schafes, einer Metapher zu dienen. Irgendwann weißt du, wie es endet. Irgendwann schaust du in ihre Augen und sie fixieren deine mit schwarzen waagerechten Balken und sie sagen: Mein guter Freund, weine nicht. Morgen komme ich wieder. Dies ist kein trauriger Anlass. Dies ist ein Wiedersehen. Und dann durchtrennst du ihre Halsschlagader, betäubt liegen sie da bis die letzte restliche Wolle rot, rot, rot und die Tropfen dir in die Schuhe süppen. Es ist kein leichtes, ein Schaf zu schlachten. Ja, das Rind ist groß und sperrig, aber wenigstens nennt es dich keinen Freund. Wenigstens schlachtest du nicht die Unschuld selbst. Es ist grässlich eine Kunst daraus zu machen. Hier geht alles über die Bänder: Huhn, Schwein, Rind, Schafe, Pferd – alles eben, was man nun schlachten möchte. Aber das Schaf zu töten, das Schaf, das ist grässlich.

Und dann schweigt er. Lange, lange Zeit.

Einem Pastor am Altar

Ein Kirchenschiff in der Adventszeit ist niemals frei von Geistern. Flackern doch alle Kerzen, klingeln doch alle Orgelpfeifen, liegen doch alle Buntglasfenster unter der feinen Borde des Frosts. Selbst die Schleiereulen im Dachstuhl merken dies.
Jeder Pastor zittert, wenn er das Kirchenschiff am Dienstagmorgen betritt. Nicht nur, wenn ein Kind am Altar steht.
Na, mein Kind?

Fragt der Pastor und bewegt sich von der Sakristei zum Marmorblock. Aber es antwortet nicht.

Was fehlt dir?
Ich weiß es nicht.
Nein?

Sagt der Pastor und setzt sich zum Kind.

Musst du nicht zur Schule?
Nein.

Sagt es und beginnt mit der Kerzenflamme zu spielen.

Lass das. Vorsichtig.

Und das Kind läuft um den Altar.

Wo ist deine Mutter?

Und das Kind sah ihn an, als sei der Pastor von allen guten Geistern verlassen.

Nein, die fehlt mir nicht.

Sagt es.

Mir fehlt, dass ich nicht weiß. Ich frage Sie: Definieren Sie mir ein Schaf?

Das kann ich nicht. Dazu bist du zu jung.

Sagt der Pastor.

Haben Sie erbarmen! Es hat mir geantwortet ein Biologe und ein Metzger, nur den Schäfer sah ich nicht. Jetzt suche ich schon seit Stunden. Stunden und ich sehne mich nach einer Antwort.
Kein Glaube dieser Welt gibt dir je konkrete Antwort. Geh nach Hause.
Aber ist er mir das nicht Schuldig? Antwort?
Mein Kind, Schuld, das ist das ganze Lamm. Das Schaf ist die älteste und einfachste Metapher. Seit Jahrtausenden sprechen wir vom Schaf als absoluten Nullpunkt eines Unschuldsbarometers. Schon zu Jesu Zeiten nutze man das Tier als Opfersymbol. Es tropft das tierische Blut hinab ins Feuer, wenn Rauchgeschwaden gen Himmel zieh’n. Ich schenke dir Leben sagt das Brandopfer und legt sich Gottes Willen zu Füßen. Mein Leben ist bestimmt der Opfergabe. Und dann stirbt es.
Warum?
Weil wir es töten.
Wer bestimmt den Tod?
Gott.
Sind wir dann Gottes Henker? Der Metzger sagt, er sei ein Henker.
Der Metzger ist ein geeigneter Boote Gottes. Wenn sein Fleisch deinen Magen hinunterrutscht, sei froh, dass die Unschuld dieses Lammes überwiegt. Sei froh, dass du all sein Fleisch stopfen kannst in deinen Mund. Gesegnet seien deine Zähne, die reißen auf die heiligen Fasern dieses Tieres. Es ist animalisch. Zerfetzt wird das Tier, beschuldigt der Unschuld. Hinrichtung ohne Prozess. Du nagst an seinen Knochen, verkohlt vom Ruß, in der Hoffnung Gottes Wort im feinen Abgeschmack zu entziffern. Das ist das Schaf. Die reinste Form der Kommunikation.

Das Kind schweigt. Es ist still für eine lange Zeit.

Siehst du, du verstehst nicht.
Doch!

Sagst das Kind.
Doch! Ich verstehe. Warte! Gehe nicht.

Und es steht ein Kind am Altar, Ringelmütze und Lederschuhe. Es schaut so aus, als würde es schrecklich frieren als es endlich sagt:

Ich definiere dir das Schaf. Das Schaf ist ein altes Nutztier, welches dem Menschen seit Jahrtausenden dient. Vielseitig einsetzbar, gibt es dem Metzger seine Kunst, dem Schäfer sein Geld, dem Forscher seine Neugier und dem Pfarrer seinen Glauben. Nicht nur pflegt es Landschaft und Kulturwiesen, nicht nur lässt sich sein Jahresertrag der Arbeit in feine Wolle spinnen, nicht nur gilt es dem Schaf die letzte Ehre zu erweisen, es zurückzuführen zum Ursprung allen Lebens über dem Feuer, nicht nur vereinen sich zwei Seelen im Vertilgen seines Fleisches, es hängt als Unschuldslamm über Toren und Orgeln und wacht mit seinen hängenden Ohren wie ein erster Richter. Es sagt: Ich diene dir, das ist mein Ziel. Ich helfe dir, das ist mein Leben. Ich sterbe dir, das ist mein Vergnügen. Ich nutze dir, denn meine Wolle ist deines Körpers Haus. Mein Blut heilig. Meine Wunden selig. Meine Augen dein Erlöser. Mein Fleisch, dein Fleisch – eins in uns’rer Seele. Erwartend dieser Hinrichtung.

Und sowie das Kind gesprochen, kehrt es auf der Stelle um und schlägt die hohe Eichentür unter dem Ölgemälde eines Schafes zu.

Einem Kinde unter der Decke

So finde man das Kinde am Abend vor dem Heiligen, kniend vor Bett und Kissen, die Hände gefaltet, den Blick gerichtet auf ein Fenster zum Himmel. Und es murmelt unverständliche Dinge; und wie es das so macht, passt kein Blatt zwischen ihm und dem kleinen Plüschschaf, dass es zwischen den spitzen Knöcheln geklemmt.

Die Augen fest zugekniffen, nimmt es tief Luft, atmet ein das einfallende Licht des geöffneten Türspalts und der beleuchteten Fenster und der fluoreszierenden Sterne an der Zimmerdecke und sagt:

Zum Heiligen Abend wünsche ich mir, dass alle Schafe schlafen, sicher und fest im warmen Stall. Dass das Stroh weich federt und der Mond hell am Himmel steht. Dass sie gesegnet werden von Milliarden von Sternen und dass das Heu gut mundet und, dass der Schäfer gut wacht, seine Hunde ihre Kreise ziehen und wenn der nächste Morgen anbricht, ich wünsche mir nichts seliger als ein Schaf.

Dann öffnet es die kleinen Augen und atmet das gelbe Licht des Hauses wieder aus. Dann ist es still. Sehr still. Das Prasseln es Niesels an der Fensterscheibe hatte sich in sanften Schnee gewandelt, als würden selbst die Wolken sagen:

Ruhe sicher, denn ich trage mit mir deinen reisenden Wunsch.

Und sobald das Knarzen der hölzernen Treppe den erhobenen Zeigefinder verlauten lässt, huscht das Kind unter die Decke und mit jedem Atemzug reist mit ihm ein Schaf.

Tigoteus; 2023